Foto: Karin Richert

Der Künstler erinnert mit seinen „Stolpersteinen“ an die Opfer der Nazi-Diktatur. Dafür erhielt er eine der wichtigsten Auszeichnungen des Landes. Kurz vor dem Festakt mit Laudator Armin Laschet verlegte Demnig 17 weitere Steine in Mönchengladbach.

Quelle: Rheinische Post 30. April 2022

Es ist der letzte Satz an diesem Abend beim Festakt im Haus Erholung, der alles beinhaltet: „Wenn du die Steine lesen willst, musst du zwangsläufig eine Verbeugung vor den Opfern machen“, sagt Gunter Demnig. Der Künstler hat soeben eine der wichtigsten Auszeichnungen des Landes NRW erhalten: den Benediktpreis von Mönchengladbach. Mit 5000 Euro dotiert geht er an Persönlichkeiten, „deren wertorientiertes Handeln vor dem Hintergrund der christlich-abendländischen Erfahrungen in besonderer Weise herausragt“.

Demnig erhält ihn für ein Projekt, das er vor bald drei Jahrzehnten begonnen hat. Europaweit erinnert er mit seinen Stolpersteinen an die Opfer der NS-Diktatur. An ihrem letzten Wohnort lässt er Messing-Gedenksteine in den Bürgersteig ein, hält so die Erinnerung lebendig an Menschen, die dort lebten, bevor sie von den Nationalsozialisten verschleppt, vertrieben, ermordet wurden.

Fast 90.000 solcher Gedenksteine hat der 74-Jährige europaweit verlegt, auch in der Ukraine und in Russland. Die meisten jedoch in Deutschland. Allein in Mönchengladbach wurden seit 2006 an 97 Orten 317 Stolpersteine verlegt, im vergangenen Jahr auch erstmals eine Stolperschwelle vor dem ehemaligen jüdischen Altenheim an der Friedrich-Ebert-Straße 82-84.

Eigentlich hätte Demnig den Preis bereits 2020 bekommen sollen. Doch die Pandemie machte den Organisatoren um Helmut Linnenbrink vom Verein „Benediktpreis von Mönchengladbach“ einen Strich durch die Pläne. Dreimal musste die Ehrung verschoben werden. Beim vierten Mal hat es geklappt, so Linnenbrink, der dem Laudator, dem früheren NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet, für dessen „Verlässlichkeit und Treue zu einer gegebenen Zusage“ dankte.

Laschet machte an der Präsidentschaftswahl in Frankreich deutlich, wie wichtig es sei, an die Verbrechen von damals zu erinnern: „Es hat nicht viel gefehlt, dass eine rechtsradikale Populistin Präsidentin geworden wäre.“ Auch die Bilder des Krieges in der Ukraine zeigten, „es ist wieder da“. Demnigs Stolpersteine erinnerten im Alltag an das Grauen, das möglich sei. „Sie gehen in die Knie vor den Opfern des Nationalsozialismus und öffnen uns damit die Augen“, so der Laudator zum Preisträger.

Oberbürgermeister Felix Heinrichs, Mitglied des von Prof. Ulrich Kania geführten Kuratoriums, bescheinigte dem Geehrten, „ein Mann mit Haltung, Überzeugung und Mut“ zu sein. Mit seinen „sprechenden Steinen“ ermutige Demnig Menschen, Zeichen zu setzen. Der Künstler gebe stellvertretend für die Millionen nicht Genannten ein Stück ihrer Würde zurück, betonte Kania.

So wie der Familie von Ernst Adler. Die ersten zehn Jahre seines Lebens verbrachte Ernst Adler im Haus an der Schillerstraße 50. Es gehörte bis August 1936 seiner Familie. Dann mussten sie, als Juden von den Nationalsozialisten entrechtet und verfolgt, nach England emigrieren. Adler ist vor zwei Tagen mit seiner Frau Ilana und Tochter Tahlia aus Boston gekommen, um zu sehen, wie Gunter Demnig, nur wenige Stunden vor dem Festakt, der Familie vor ihrem ehemaligen Zuhause in Mönchengladbach vier Gedenksteine setzt: je einen für die Eltern Max und Erna Adler sowie für deren Kinder Ernst und Erika.

Trotz Jetlag ist Ernst Adler hellwach. Ob man ihn fragen dürfe, wie alt er sei? „Fragen dürfen Sie“, sagt Adler und lacht. Später verrät er doch, dass er in zwei Wochen 96 Jahre alt werde. Und: „Ich hoffe, mich besser an die Zeit in Mönchengladbach erinnern zu können, wenn die Steine gleich liegen.“ Adler zur Seite steht auch Susan Worthington, seine Nichte aus Basel. Sie wird später eine bewegende Trauerrede für ihren Großvater halten.

Auch Heinrichs ist am Vormittag dabei und sagt: „Das ist ein besonderer Tag für die Stadt an diesem speziellen Ort. Ich bin von tiefer Freude und Dankbarkeit erfüllt, Ernst Adler selbst begrüßen zu dürfen.“ Demnig nimmt sich Zeit mit der Verlegung, bettet die Steine behutsam in unterschiedliche Sandsorten. Dazu spielt Musiker Jürgen Löschner auf dem Saxophon alte jüdische Volkslieder.

Als Demnig sein Werk vollendet hat, kniet Ernst Adler davor nieder und liest. „Alle Namen richtig geschrieben“, sagt er sichtlich bewegt. Jemand legt eine einzelne weiße Rose neben die Steine. Gabbai Boris Gerskovic von der Synagoge betet zur Erinnerung an die sechs Millionen in den Konzentrationslagern ermordeten Juden „El Male Rachamem“. Heinrichs dankt allen, die diese berührende Verlegung begleitet haben, darunter Leah Floh, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde und Vertretern der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Ernst Adler und seine Familie wollen n
och ein paar Tage im Rheinland verbringen. Dann geht es für sie wieder zurück nach Boston und Basel.

Bei dem Festakt sitzen er und seine Familie bei der Verleihung des Benediktpreises von Mönchengladbach in der ersten Reihe. Umgeben von rund 200 geladenen Gästen. Darunter die Antisemitismusbeauftragte des Landes, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Antisemitismus-Beauftragte des Landes, die Vize-Präsidentin des Landtags, Carina Gödecke, der Staatssekretär Christoph Dammermann sowie zahlreiche Stadt-Prominente.

Quelle: Rheinische Post 30. April 2022